Welche tragende Rolle dabei die Europäische Union spielte, ist mir erst viel später so richtig bewusst geworden.
Ich bin mit der EU groß geworden, sie war immer da und doch nicht im Fokus. Meinen persönlichen Aha-Moment in Sachen EU hatte ich tatsächlich erst 2014.
Zum 100. Gedenktag anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, fuhr ich mit Schülerinnen und Schülern nach Verdun in Frankreich. Viele Wochen hatten wir uns theoretisch im Klassenraum auf diese Exkursion vorbereitet, nichtsahnend, wie nachhaltig dieser Besuch für uns sein würde.
Wir bereisten einige historische Orte rund um Verdun. So z.B. auch Haumont, ein kleiner Ort, wie es ihn auch hier in der Eifel vor über 100 Jahren hätte geben können: geprägt von der Landwirtschaft, damals umgeben von Wiesen, Feldern und Wäldern. Dieser Ort wurde im Stellungskrieg dem Erdboden gleich gemacht. Heute hat die Natur sich diesen Ort zurückerobert. Auf schmalen Pfaden, kann man durch das alte Dorf spazieren und die Ruinen der Häuser lassen sich unter Farn und Moos erahnen. Mitten in diesem Ort steht noch der Chorraum der alten Dorfkirche. Ein Ort für Gott, der über die Jahrzehnte gepflegt wurde. Aber auch ein Hoffnungszeichen für jeden gläubigen Besucher: Gott ist für uns da, auch hier im Angesicht des Leids und der Zerstörung.
Auf den vielen Soldatenfriedhöfen rund um Verdun, sahen wir unzählige Kreuze. Und jedes stand bzw. steht für das sinnlos verlorene Leben eines jungen Soldaten und das damit verbundene Leid einer ganzen Familie.
Wir fuhren weiter zum Fort Douaumont, durch Wälder, in denen wir immer noch die Schützengräben erkennen konnten.
Als wir am späten Nachmittag bei herrlichem Wetter auf den Hügeln der Festung standen, blickten wir auf eine scheinbar idyllische Landschaft. Natur weit und breit. Aber durchzogen von Kratern, einer neben dem anderen. Ein jedes Kraterloch als Erinnerung an eine Bombe, die dort gefallen war und als stille Mahnung. Die ungeheure Materialschlacht des Ersten Weltkrieges wurde uns vor Augen geführt.
Es war still, als wir da oben standen. Die Schülerinnen und Schüler, die morgens bei der Abreise noch aufgedreht waren, schwiegen im Verlauf des Tages immer mehr. Man spürte, wie sie ihren Gedanken nachgingen. Die Eindrücke vor Ort waren schwer verdaulich.
Und in diese Stille hinein sagte ein Schüler: „Wir können echt glücklich sein, dass wir heute als Freunde und nicht als Feinde hierhin reisen konnten.“
Da war er. Mein Aha - Moment. Und mir wurde bewusst welch großes Glück ich habe, in einer stabilen europäischen Gemeinschaft zu leben. Eine Gemeinschaft, die für Frieden in Freiheit steht. Eine Gemeinschaft, die mir Sicherheit gibt. Eine Gemeinschaft, in der christliche Werte immer noch eine zentrale Rolle spielen.
Welch ein Glück, dass man im Jahre 1951 das Fundament für diesen europäischen Frieden gelegt hat und in den Jahren bis heute immer weiter an dieser Gemeinschaft „gebaut“ wurde.
Dass ich nun, nur 10 Jahre später am Tag der Europawahl der Aufforderung der deutschen Bischöfe und des katholischen Hilfswerkes Renovabis nachkomme, um für diesen europäischen Frieden zu beten, hätte ich nicht gedacht. Viel zu sicher erschien mir die Institution der Europäischen Union. Doch oft weiß man ja auch erst so richtig zu schätzen, was man hat, wenn es bedroht ist. Und die Frage ist, wieviel wird in den nächsten Jahren von der EU noch bleiben? Der Nationalismus ist in vielen Ländern Europas wieder deutlich zu spüren. Rechtsextreme Kräfte zerren an unserer Demokratie und wir müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwann wieder in einer gewählten Diktatur erwachen.
Die Jugendlichen, die bei dieser Europawahl das erste Mal mit 16 Jahren wählen dürfen, wachsen in einer unsicheren Zeit auf. Die Klimakrise, die Pandemie, der wachsende Nationalismus und eine schwächer werdende Wirtschaft fordern unsere Gesellschaft heraus. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist der Krieg wieder in Europa angekommen.
Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir als Christen Position beziehen für unsere Demokratie, unsere Freiheit und unseren Frieden. Die deutsche Bischofskonferenz hat sich bereits deutlich positioniert und verlautbart, dass „Völkischer Nationalismus und Christentum“ unvereinbar sind.
Nehmen wir uns doch den Jesus aus dem heutigen Evangelium zum Vorbild. Der radikale, rebellische Jesus, der Unruhestifter, den die Familie wieder einfangen möchte, weil er sich in Schwierigkeiten begibt. Dem bereits vorgeworfen wird, er sei vom Teufel besessen. Dabei verfolgt er nur sein Ziel gegen jeden Widerstand: Er will den Menschen vom Reich Gottes berichten. Und dabei ist er für die damalige Gesellschaft ganz schön unbequem.
Seien wir auch unbequem, wenn es nötig ist. Seien wir rebellisch, wenn unsere friedliche Gemeinschaft gefährdet ist. Und vor allem nutzen wir unsere Stimme sinnvoll, damit auch die nachfolgenden Generationen noch in einem Frieden in Freiheit aufwachsen können.